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Seminarbeitrag | Köln | 6.11.12 | Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien (Jakob Krameritsch)

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Jakob Krameritsch (2009) stellt in seinem Aufsatz Die 5 Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien die These auf, dass den vier klassischen Typen des historischen Erzählens nach Jörn Rüsen (1982) ein fünfter Typ, den er das situative historische Erzählen nennt, hinzuzufügen ist.

Zur Begründung seiner These geht Krameritsch in einem ersten Schritt auf die Ausführungen Rüsens ein, um die vom ihm konstatierte veränderte historische Erzählweise im digitalen Zeitalter genauer konturieren zu können.

Rüsens Anspruch ist es, jede Sprachhandlung über die Vergangenheit typologisieren zu können.  Dabei betont er die sinn- und orientierungsstiftende Funktion des historischen Erzählens. – Historisches Erzählen ist folglich identitätsstiftend.  Historisches Erzählen stellt unterschiedliche Formen von Kontinuitäten und Kohärenzen zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont resp. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft her. (Näheres zu den vier Typen des historischen Erzählens nach Rüsen: vgl. das Sitzungsprotokoll vom 6.11.2012 bzw. die Originalausführungen Rüsens)

Die Darstellungen zu Rüsen nutzt Krameritsch, um in einem zweiten Schritt die Postmoderne als Dekonstrukteur der Rüsen’schen Typen,  insbesondere des genetischen historischen Erzählens, ins Spiel zu bringen.  Linearität und Eindeutigkeit von Geschichte würden zu Gunsten von Ambivalenz und Komplexität aufgehoben, was eben die Einführung eines neuen Typen des historischen Erzählens erforderlich mache. Krameritsch argumentiert, dass philosophische und soziologische Analysen postmoderner Identitätskonstruktionen mit der Art und Weise postmoderner Geschichtsschreibung korrelieren.

In einem dritten Argumentationsschritt stellt Krameritsch exemplarisch postmoderne Spezifika dar, um diese im Folgenden auf historisches Erzählen beziehen zu können. Die Postmoderne ließe sich demnach über Begriffe wie (risikoreiche) Optionenvielfalt, Hybridität und eine hohe Kombinierbarkeit und Revidierbarkeit gesetzter Identitätsbausteine charakterisieren. Nach Sennett hadere der postmoderne flexible Mensch mit Kohärenz- und Sinnverlust und müsse Erfahrungsraum und Erwartungshorizont immer wieder neu und situativ aufeinander beziehen. Hermann Lübbe beobachtet in der Postmoderne eine Verkürzung der Zeiträume, in denen Lebensverhältnisse konstant sind. Zudem erscheine einerseits dem Individuum die Vergangenheit schneller fremd und andererseits könne die Zukunft weniger gut überblickt werden. Lübbe subsumiert diese Phänomene unter dem Begriff der Gegenwartsschrumpfung.

Nun könnten diese postmodernen Spezifika nicht nur Geltung für das Individuum einer sogenannten Netzwerkgesellschaft beanspruchen, sondern seien auch zentrale Charakteristika digitaler Kulturtechniken und Organisationsformen. Grundlegend sei hier die hypertextuelle Struktur zu nennen. Diese zeichne sich u.a. über eine flexible Kombinierbarkeit von Inhalten, assoziative Schreib- und Leseprozesse oder das Verschmelzen von Autoren und Rezipienten im Web 2.0 (zu „Wreadern“) aus.

In einem letzten Schritt versucht Krameritsch die aufgezeigten Momente postmoderner Identitätsanalysen und deren Entsprechungen in den digitalen Kulturtechniken auf Geschichte resp. Geschichtswissenschaft zu beziehen. Für letztere bedeutet die veränderte soziale, kulturelle und mediale Lebensumwelt, dass das „klassische auktoriale [genetische] Meisternarrativ  seine Legitimität verloren hat“ (Krameritsch 2009, 10). Neuere kulturwissenschaftliche Ansätze betonen vielmehr die Verwobenheit unterschiedlicher Zeit- und Kulturgeschichten, Diversitäten und multiperspektivische Geschichtsschreibung. Argumentationen von Wolfgang Schmale und Olaf Breidbach aufgreifend ginge es laut Krameritsch darum, „situationsspezifische, historische Mikro- und Makrokohärenzen zu identifizieren und zumindest ‚temporäre Teilräume‘ kollektiver Herkunft und Zukunft zu sichern “ (Krameritsch 2009, 11). Im Versuch, Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte zu identifizieren, könne  situatives Erzählen schließlich Orientierung bieten. Als ein Beispiel führt Krameritsch u.a. Hans Ulrich Gumbrechts Buch 1926. Ein Jahr am Rande der Zeit an, wo der Autor die Welt als asymmetrisches Netzwerk zu konstituieren versucht.

Die Beobachtung einer veränderten historischen Erzählweise mündet bei Krameritsch in der Forderung, dass Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik das Individuum ermächtigen müssten, selbständig Kohärenzen zu bilden. Dafür sei die Ausbildung von Urteils- und Quellenkompetenz ebenso wichtig wie die der narrativen Fähigkeiten.

 


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